5. Vorsicht
a) Allgemeines
Der Grundsatz der Vorsicht verlangt eine besondere Sorgfalt in der Ermessensausübung von erforderlichen Schätzungen unter ungewissen Umständen, sodass Vermögenswerte oder Erträge nicht zu hoch und Schulden oder Aufwendungen nicht zu tief angesetzt werden.
Oft entsteht ein Widerspruch zwischen dem Vorsichtsprinzip und der Zielsetzung der zuverlässigen Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage. Nach dem Vorsichtsprinzip stellt sich das Unternehmen im Zweifelsfall eher ärmer dar als es in Wirklichkeit ist. Im Ergebnis führt das zur Bildung stiller Reserven. Die Vorschriften des OR sind in Bezug auf die Bildung von stillen Reserven weniger streng, als es die Rechnungslegungsstandards sind.
Weiter entspricht es dem Vorsichtsprinzip, bei Ungewissheit und gleicher Eintreffenswahrscheinlichkeit, die weniger optimistische Variante zu wählen. Diese darf aber gleichzeitig nicht unwahrscheinlich sein. Mit anderen Worten ist das Unternehmen nicht verpflichtet immer von einem «worst-case-Szenario» auszugehen. Bestehen konkrete Anzeichen für eine Überbewertung von Aktiven oder für zu geringe Rückstellungen, so sind die Werte zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen (Art. 960 Abs. 3 OR).
Die «prudence» ist sowohl ein Grundsatz in den Swiss GAAP FER als auch (bis September 2010) in den IFRS. Neuerdings wurde der Grundsatz der Vorsicht wieder in das Rahmenkonzept der IFRS aufgenommen. Anders als unter dem OR, lassen die anerkannten Standards aber die Bildung stiller Reserven nur restriktiv zu und gestatten beispielsweise nicht, willkürliche stille Reserven zu bilden oder Rückstellungen überzubewerten. Ein bewusst zu niedriger Ansatz von Vermögenswerten oder Erträgen, respektive der absichtlich zu hohe Ansatz von Schulden oder Aufwendungen, würden zu einem nicht neutralen Abschluss führen. Dies entspräche nicht dem Kriterium der Verlässlichkeit (Swiss GAAP FER Rahmenkonzept Ziff. 32 und IFRS Framework QC12-16 [glaubwürdige Darstellung]).
b) Quellen
Vgl. dazu Art. 960 Abs. 2, Abs. 3 sowie Art. 958c Abs. 1 Ziff. 5 OR; HWP, Bd. 1, II.6.2.2.3, S. 59 f.; Swiss GAAP FER Rahmenkonzept, Ziff. 13.
(1) Swiss GAAP FER
Vorsichtsprinzip (Swiss GAAP FER, Rahmenkonzept, Ziff. 13)
Der Grundsatz der Vorsicht ist eine Verhaltensweise, die in erster Linie bei der Bewertung Bedeutung hat. Das Vorsichtsprinzip darf nicht bewusst benutzt werden, um willkürliche stille Reserven zu bilden. Eine vorsichtige Bewertung gestattet nicht, Aktiven bewusst zu tief oder Verbindlichkeiten zu hoch zu bewerten, da die Jahresrechnung das Kriterium der Zuverlässigkeit und der True & Fair View erfüllen muss. Dagegen entspricht es dem Vorsichtsprinzip, bei Ungewissheit und gleicher Eintreffenswahrscheinlichkeit, die weniger optimistische Variante zu wählen.
(2) IAS/IFRS
Vorsicht (IAS/IFRS, Framework, Paragraph 37)
37. Die mit der Aufstellung des Abschlusses befassten Personen müssen sich allerdings mit den Ungewissheiten auseinandersetzen, die mit vielen Ereignissen und Umständen unvermeidlich verbunden sind, beispielsweise mit der Wahrscheinlichkeit, zweifelhafte Forderungen einzutreiben, der voraussichtlichen Nutzungsdauer von technischen Anlagen und Betriebs- und Geschäftsausstattung sowie der Zahl von Garantieansprüchen, die auftreten können. Solchen Ungewissheiten wird durch die Angabe ihrer Art und ihres Umfanges sowie dadurch Rechnung getragen, dass bei der Aufstellung des Abschlusses die Vorsicht berücksichtigt wird. Vorsicht bedeutet, dass ein gewisses Mass an Sorgfalt bei der Ermessensausübung, die für die erforderlichen Schätzungen unter ungewissen Umständen erforderlich ist, einbezogen wird, so dass Vermögenswerte oder Erträge nicht zu hoch und Schulden oder Aufwendungen nicht zu niedrig angesetzt werden. Allerdings gestattet eine vorsichtige Vorgehensweise beispielsweise nicht, stille Reserven zu legen oder Rückstellungen überzubewerten, den bewusst zu niedrigen Ansatz von Vermögenswerten oder Erträgen oder den bewusst zu hohen Ansatz von Schulden oder Aufwendungen, da der Abschluss dann nicht neutral wäre und deshalb das Kriterium der Verlässlichkeit nicht erfüllen würde. Dennoch ist zu erwähnen, dass auch die IFRS stille Reserven zulassen bzw. diese gar verlangen.