A. Permanente Überwachungspflicht des VR
Es gehört zu den unübertragbaren Pflichten des VR, die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Gesellschaft stetig zu verfolgen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3, Art. 725 Abs. 1 OR). Nur wenn er den Ist-Zustand der Gesellschaft in ihrem wirtschaftlichen Umfeld kennt, kann er beurteilen, ob und wie er einen Rettungsversuch unternehmen, eine Sanierungs-GV einberufen oder die Bilanz hinterlegen und über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet lassen muss.
Schlüsselgrössen für die Feststellung potenzieller Krisen sind das Eigenkapital und das Risikoverhalten der Gesellschaft: Da das Eigenkapital die Risikoreserve der Gesellschaft bildet, hängt die Risikofähigkeit der Gesellschaft von ihrer Eigenkapitalausstattung ab.
Besteht ein Missverhältnis zwischen Eigenkapitalausstattung und Risikoverhalten, muss das Risikoverhalten reduziert oder das Eigenkapital erhöht werden. Die Pflichtverletzung durch den VR beginnt in dem Moment, in dem das Risikoverhalten des Unternehmens nicht mehr durch genügend Eigenkapital gedeckt ist.
Allerdings kann der VR nur das Risikoverhalten autonom anpassen. Eine Anpassung der Eigenkapitalausstattung durch eine Kapitalerhöhung erfordert hingegen einen Beschluss der GV. Verweigern die Aktionäre die Wiederherstellung oder Erhöhung des Eigenkapitals, liegt darin auch ein für den VR bindender Entscheid bzgl. des künftigen Risikoverhaltens der Gesellschaft.