I. Funktion

a) Grundlagen

Art. 957a Abs. 2 OR und Art. 958c OR schreiben vor, dass die Bücher nach den Grundsätzen ordnungsmässiger Buchführung und der Jahresabschluss nach den Grundsätzen ordnungsmässiger Rechnungslegung zu führen und zu erstellen sind und zwar so, dass die Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft möglichst zuverlässig beurteilt werden kann. Dies ist in dem Sinne zu verstehen, dass ein durchschnittlicher Leser der Jahresrechnung, welche die Grundlage für alle Erkenntnisse und Schlussfolgerungen darstellen sollte, als Aktionär, als Organ oder als Gläubiger eine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens und, gestützt darauf, vernünftige Entscheidungen treffen können sollte (Art. 958 Abs. 1 OR).

Bei der Aufstellung des Jahresabschlusses sind die Grundsätze der ordnungsgemässen Rechnungslegung im Allgemeinen und die einzelnen Bewertungs- und Darstellungsvorschriften im Speziellen zu beachten.

Diese Grundsätze der ordnungsgemässen Rechnungslegung sind im OR als Prinzipien formuliert, die oft unbestimmt sind, sich teilweise auch widersprechen und in vielen Fällen dem Ersteller der Jahresrechnung einen grossen Ermessensspielraum belassen. Eine Konkretisierung dieser Grundsätze ergibt sich teilweise durch die Rechnungslegungsstandards. Aber auch dort gilt, dass diese Grundsätze nicht nur Normen verkörpern, die im Einzelfall angewendet werden, sondern ebenfalls Wertemassstäbe vermitteln, die bei der Beantwortung einzelner Bewertungs- und Darstellungsfragen zu beachten sind. Dabei wird einerseits ein Ausgleich unter den einzelnen Merkmalen (Balance between qualitative characteristics) angestrebt. Andererseits muss vermieden werden, dass ein Einzelkriterium durch ein anderes Kriterium verdrängt wird.

b) Vorsicht oder Wahrheit ?

Die Widersprüchlichkeit, welche sich zwischen den einzelnen Grundsätzen ergeben kann, kommt besonders deutlich im Verhältnis zwischen dem Grundsatz der Vorsicht und dem Grundsatz der Wahrheit zum Ausdruck, verstanden als Grundlage für eine möglichst zuverlässige Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage. Je vorsichtiger die Bewertung ausfällt bzw. je ärmer sich das Unternehmen darstellt, desto grösser sind die stillen Reserven und somit auch das im Interesse der Gläubiger liegende Substrat. Die damit vermittelte Aussage entspricht dann aber nicht mehr dem Ziel der Zuverlässigkeit und Wahrheit.

Die Rechnungslegungsvorschriften des OR sind auch im neuen Recht stark vorsichtsgeprägt, während jene der Rechnungslegungsstandards (Swiss GAAP FER und IFRS) diesen Grundsatz zwar auch beachten, aber gleichwohl viel stärker ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage («true & fair presentation» / «fair presentation») anstreben. Der Grund dafür liegt darin, dass die Rechnungslegungsstandards auf die Anleger ausgerichtet sind. Diese möchten eine gute Entscheidungsgrundlage für eine (De-)Investition haben. Dagegen sind Regelwerke, wie das OR, vermehrt auf Gläubiger als Kapitalgeber ausgerichtet. Gläubiger sind an einer vorsichtigen Bilanzierung interessiert.