24. Stille Reserven
a) Begriff
Grundlagen: Stille Reserven sind die Folge der Unterbewertung von Aktiven oder der Überbewertung von Fremdkapital und Rückstellungen. Oft werden sie schleichend über einen gewissen Zeitraum hinweg gebildet, indem höhere Abschreibungen vorgenommen werden, als durch die Nutzungsdauer geboten waren, oder indem Rückstellungen, die nicht mehr gerechtfertigt sind, nicht aufgelöst werden. Begrifflich werden stille Zwangsreserven, Ermessensreserven, Willkürreserven und widerrechtliche stille Reserven unterschieden.
Stille Zwangsreserven: Stille Zwangsreserven liegen vor, wenn der Wert eines Anlagevermögens höher als sein Anschaffungswert ist, aber nicht in voller Höhe aktiviert werden darf. Wie schon der Begriff «Zwangsreserve» zeigt, geniesst das Unternehmen in Bezug auf die Frage, ob die Reserven gebildet werden, keinen Spielraum.
Stille Ermessensreserven: Ermessensreserven sind stille Reserven, die gebildet werden, indem bis an die Grenze dessen gegangen wird, was durch das Vorsichtsprinzip gerechtfertigt werden kann, wenn also bei mehreren betriebswirtschaftlich ermittelten Wertansätzen der vorsichtigste gewählt wird. Steht beispielsweise im Zusammenhang mit einer Abschreibung fest, dass die Nutzungsdauer des betroffenen Gegenstands zwischen drei und sechs Jahren beträgt, dann ist es zulässig, von einer dreijährigen Nutzungsdauer auszugehen.
Stille Willkürreserven: Willkürreserven liegen vor, wenn die Bildung der stillen Reserven nicht mehr durch das Vorsichtsprinzip gerechtfertigt werden kann, die Bildung der stillen Reserven aber durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht gleichwohl zulässig ist. Unter diese Kategorie fallen beispielsweise die stillen Reserven, die entstehen, wenn nicht mehr benötigte Rückstellungen nicht aufgelöst werden.
Unzulässige stille Reserven: Unzulässige stille Reserven sind stille (Willkür-)Reserven, deren Bildung gegen rechnungslegungsrechtliche Vorschriften verstösst. Darunter fallen beispielsweise fiktive Schulden. Die Bildung solcher unzulässiger stiller Reserven kann strafbar sein.
b) Wiederbeschaffungsreserven
Stille Reserven als Wiederbeschaffungsreserven führen dazu, dass Ersatzbeschaffungen nicht die Jahresrechnung belasten und den Ertrag schmälern. Stattdessen erfolgt ihre Verbuchung durch Auflösung der zuvor geschaffenen stillen Wiederbeschaffungsreserven. Ohne ihre Errichtung wäre der Gewinn in der Periode vor der Wiederbeschaffung höher, danach tiefer.
Zu Wiederbeschaffungszwecken gestattet das OR zusätzliche Abschreibungen und Wertberichtigungen vorzunehmen. Zum gleichen Zweck kann davon abgesehen werden, nicht mehr begründete Abschreibungen und Wertberichtigungen aufzulösen (Art. 960a Abs. 4 OR).
c) Weitere stille Reserven
Weitere stille Reserven werden etwa mit der Zielsetzung, dem Unternehmen eine gleichmässige (formale) Ertragserzielung zu ermöglichen, gebildet. Dies geschieht, in dem operative Verluste durch die Auflösung von stillen Reserven «korrigiert» werden und somit nicht in die Jahresrechnung einfliessen. Solche weiteren stillen Reserven dürfen nur gebildet werden, wenn dies zur Sicherheit des dauernden Gedeihens des Unternehmens erfolgt (Art. 960e Abs. 3 Ziff. 4 OR). Willkürliche stille Reserven sind verboten (Art. 958 Abs. 1 OR).
d) Dokumentation und Offenlegung der stillen Reserven
Die Bildung und Auflösung von stillen Reserven muss intern dokumentiert werden. Denn ohne Dokumentation können die Angaben gemäss Art. 959c Abs. 1 Ziff. 3 OR nicht gemacht werden.
Die Zielsetzung zu vermeiden, dass das Unternehmen seinen Ertrag verschleiert, führte zum Kompromiss in der Aktienrechtsreform von 1991 und zur Vorschrift in Art. 663b Ziff. 8 aOR, dass das Unternehmen grundsätzlich verpflichtet ist, den Saldo der Auflösung von stillen Reserven offenzulegen, wenn dadurch das Geschäftsergebnis «wesentlich günstiger» dargestellt wird. Die Vorschrift wurde unverändert ins neue Recht übernommen. Der Gesetzgeber konnte sich für das neue Recht nicht dazu durchringen, das Unternehmen zu verpflichten, sowohl die Auflösung von alten stillen Reserven, wie auch die Bildung von neuen stillen Reserven, offenzulegen. Das Unternehmen ist (eigentlich in Verletzung des Verrechnungsverbotes) lediglich zur Offenlegung des Saldos verpflichtet.
Es besteht das Risiko, dass das Unternehmen versucht, die Auflösung von stillen Reserven zu verschleiern, z.B. weil es seine Ertragskraft besser darstellen möchte. In diesem Fall besteht die Gefahr, dass das Unternehmen versucht, scheinbar gebildete stille Reserven von effektiv aufgelösten stillen Reserven abzuziehen, damit der Saldo tief bleibt.
e) Quellen
Art. 958 Abs. 1, 960a Abs. 4, 960e OR; HWP, Bd. 1, IV.6.27, S. 256 ff.; Swiss GAAP FER Rahmenkonzept Ziff. 13.