22. Rückstellungen

a) Grundlagen

Ereignisse in der Vergangenheit können zu Ansprüchen gegen die Gesellschaft führen mit der Folge, dass diese als Verbindlichkeiten in die Bilanz aufgenommen werden müssen. Es kommt aber auch vor, dass das vergangene Ereignis nicht bereits zu einer Verpflichtung führt, sondern nur zu einer möglichen oder wahrscheinlichen Verpflichtung, deren Höhe oder Fälligkeit ungewiss, aber abschätzbar ist (Art. 960e Abs. 2 OR, IAS 37.10). Das Ereignis in der Vergangenheit muss vor dem Bilanzstichtag stattgefunden haben und eine rechtliche oder faktische Verpflichtung mit sich bringen (Swiss GAAP FER 23 Ziff. 2). Solche Ungewissheiten führen zu Rückstellungen.

Lassen vergangene Ereignisse einen Mittelabfluss in künftigen Geschäftsjahren erwarten, so müssen die voraussichtlich erforderlichen Rückstellungen zu Lasten der Erfolgsrechnung gebildet werden. Rückstellungen dürfen zudem insbesondere gebildet werden für regelmässig anfallende Aufwendungen aus Garantieverpflichtungen, Sanierungen von Sachanlagen, Restrukturierungen und zur Sicherung des dauernden Gedeihens des Unternehmens (Art. 960e Abs. 3 OR) .Ist der Betrag nicht verlässlich abschätzbar, so müssen im Anhang Angaben zum Rückstellungsbedarf gemacht werden.

Beispiel 1: Bildung einer Rückstellung

Das Unternehmen X erfährt im Jahr 1, dass im nächsten Jahr wahrscheinlich aus den Garantieverpflichtungen eine Zahlung von CHF 1’000 zu leisten ist. Das Risiko ist grösser als 50%. Das Unternehmen bildet für den möglichen zukünftigen Aufwand eine Rückstellung.

Variante A: Das erwartete Risiko tritt im Jahr 2 nicht ein.

Variante B: Das erwartete Risiko tritt im Jahr 2 ein.

Beispiel 2: Keine Rückstellung trotz Risiko

Das Unternehmen X erfährt im Jahr 1, dass im nächsten Jahr wahrscheinlich aus den Garantieleistungen eine Zahlung von CHF 1’000 zu leisten ist. Das Risiko ist grösser als 50%. Trotz diesem möglichen zukünftigen Risiko bildet das Unternehmen keine Rückstellung.

Variante A: Das erwartete Risiko tritt im Jahr 2 nicht ein.

Variante B: Das erwartete Risiko tritt im Jahr 2 ein.

Die unterlassene Rückstellung führt dazu, dass sich der Aufwand in einer späteren Periode auswirkt. Die Rückstellung hingegen lässt den Aufwand früher erfolgswirksam werden.

Dokumentation:

b) 50 Prozent-Regel oder proportionale Methode?

Ein Abfluss von Ressourcen oder ein anderes Ereignis wird als wahrscheinlich angesehen, wenn mehr dafür als dagegen spricht. D. h. die Wahrscheinlichkeit, dass das Ereignis eintritt, ist grösser als die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt.

Diese 50 Prozent-Regel gilt nach IFRS (IAS 37.23) und bspw. auch nach HRM2 FE 09.11. Wenn die Wahrscheinlichkeit des Abflusses von Ressourcen z.B. 60 Prozent beträgt, muss nach IFRS eine Rückstellung in voller Höhe (zu 100 und nicht zu 60 Prozent) vorgenommen werden. Wenn die Wahrscheinlichkeit des Abflusses von Ressourcen z.B. 25 Prozent beträgt, darf keine Rückstellung vorgenommen werden (auch nicht im Umfang von 25 Prozent des drohenden Abflusses).

Gemäss OR sowie nach Swiss GAAP FER ist auch eine Rückstellung in der Grösse der Wahrscheinlichkeit des Eintritts zulässig (im beschriebenen Beispiel demnach im Umfang von 60 bzw. 25 Prozent). Das Bundesgericht hat in einzelnen Entscheiden die Anwendung der 50%-Regel verworfen und bei einer knapp unter 50% liegenden Eintretenswahrscheinlichkeit die Bildung einer Rückstellung im Umfang von 50% verlangt.

c) Offenlegung der Rückstellung

Rückstellungen sind in der Bilanz als Passivum auszuweisen und im Anhang zu erläutern (Art. 959a Abs. 2 Ziff. 2 lit. c OR).

d) Rückstellung für zukünftige Aufwendungen?

Nach Rechnungslegungsstandard dürfen für zukünftige geplante Aufwendungen keine Rückstellungen gebildet werden. Zukünftige Aufwendungen sind richtigerweise zu Lasten derjenigen Periode zu berücksichtigen, in der sie anfallen.

Das OR (Art. 960e Abs. 3 Ziff. 1 OR) erlaubt die Bildung von Rückstellungen ausdrücklich auch für regelmässig anfallende Aufwendungen aus Garantieverpflichtungen und zu Wiederbeschaffungszwecken sowie zur Sicherung des dauernden Gedeihens des Unternehmens. Es kann zudem davon abgesehen werden, nicht mehr begründete Abschreibungen und Wertberichtigungen aufzulösen.

e) Auflösung der Rückstellung

Nicht mehr begründete Rückstellungen müssen auch nach dem neuen Rechnungslegungsrecht nicht aufgelöst werden. Dadurch bilden sich stille Reserven. Insbesondere zu Wiederbeschaffungszwecken sowie zur Sicherung des dauernden Gedeihens des Unternehmens kann davon abgesehen werden, nicht mehr begründete Abschreibungen und Wertberichtigungen aufzulösen (Art. 960e Abs. 4 OR).

Nach Rechnungslegungsstandards ist die Angemessenheit der Rückstellungen jährlich zu prüfen. Sie sind je nach Entwicklung des Risikos beizubehalten oder aufzulösen.

Erfolgt eine Auflösung der Rückstellung, so muss der Betrag im Anhang oder in der Erfolgsrechnung separat ausgewiesen werden, soweit er die neu gebildeten Rückstellungen übersteigt.

f) Rückstellungen unter COVID-19

Ein interessanter Anwendungsfall bildet die Rückstellungsbildung mit Hinblick auf das Coronavirus. Anfang 2020 wurde es absehbar, dass die Wirtschafts stark unter dem Coronavirus und den daraus folgenden Einschränkungen (Versammlungsverbot, Ladenschliessgebot, usw.) leiden wird. Fraglich ist nun, ob diese Erkenntnis bereits in die Jahresrechnung 2019 einfliessen soll. Zwei Ansichten können hier vertreten werden, zum einen die vorsichtige und zum anderen die periodengerechte. Wird der letzteren Ansicht den Vorzug gegeben, so ist darauf abzustellen, dass die auslösende Ursache erst nach dem Bilanzstichtag eintritt und darum das Ereignis grundsätzlich nicht in der Jahresrechnung erfasst wird, sondern nur im Anhang anzugeben ist. Die vorsichtige Betrachtung führt hingegen zum Schluss, dass eine Wertberichtigung/Rückstellung i.S.v. Art. 960a Abs. 4 OR sowie Art. 960e Abs. 3 Ziff. 4 OR zu prüfen ist. Gewisse kantonale Steuerverwaltungen haben bereits angekündigt, dass Corona-Rückstellungen im Rechnungsabschluss 2019 steuerlich zu anerkennen sind (nicht abschliessende Liste: AG, TG, VS, ZG).

Beispiel des Kantons Zug:

«Unternehmen und Selbständigerwerbende (AG’s, GmbH’s, Genossenschaften, Personengesellschaften, Einzelfirmen), die direkt oder indirekt von den negativen Folgen des Coronavirus (COVID-19) betroffen sind, können einmalig in der Jahresrechnung 2019 eine steuerliche Rückstellung von maximal 50 % des Gewinns bzw. des selbständigen Erwerbs (ohne ausserordentliche Faktoren wie z.B. Veräusserungs- und Aufwertungsgewinne) bilden, jedoch maximal bis zum Betrag von 500’000 Franken. Die so gebildete ausserordentliche Rückstellung 2019 ist in der Jahresrechnung 2020 wieder aufzulösen.»

g) Quellen

Art. 959a, 960e OR; HWP, Bd. 1, IV.6.23, S. 238; Swiss GAAP FER 23; IAS 37.

Dokumentation